Der Vertrag von Lissabon ist ein großer Fortschritt
Ein Europa nur für die Wirtschaft? Lange Zeit konnte man den Eindruck haben: Hieß doch die EG früher noch „EWG“ (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) und stand ganz im Zeichen des gemeinsamen Binnenmarktes. Zwar war das von Anfang an nicht alles – vor allem hat uns Europa eine nie gekannte Zeit jahrzehntelangen Friedens beschert. Aber darüber hinaus standen mit Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit die Rechte der Arbeitgeber im Vordergrund.
Charta der Grundrechte
Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon am 13.12.2007 ändert sich das: Erstmals bekommt Europa einen Katalog verbindlicher sozialer Grundrechte. Um einmal ein paar hervorzuheben:
Artikel 24 Charta der Grundrechte:
„Rechte des Kindes
Kinder haben Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind [...]“
Artikel 25 Charta der Grundrechte:
„Rechte älterer Menschen
Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben.“
Artikel 31 Charta der Grundrechte:
„Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
Absatz 1: Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
Absatz 2: Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub.“
Weitere Artikel umfassen z.B. das Recht auf Zugang zur Gesundheitsvorsorge, das Recht auf Kündigungsschutz oder das Recht auf soziale Sicherheit. Auch die Gewerkschaftsfreiheit ist erstmals garantiert.
Was bedeutet das konkret?
Ein Beispiel: Die finnische Reederei Viking Line wollte eine Fähre unter estnischer Flagge fahren lassen und die finnische Besatzung durch eine billigere estnische austauschen. Auf Druck der internationalen Transportarbeitervereinigung weigerten sich die zuständigen estnischen Gewerkschaften, bei diesem Spiel mitzumachen und verhinderten die Ausflaggung. Viking Line klagte dagegen, weil er sich in seiner europäischen Niederlassungsfreiheit verletzt sah. Früher wäre er damit vielleicht auch erfolgreich gewesen. Nun entschied aber der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 11.12.2007 unter Vorgriff auf die Charta der Grundrechte, dass die Gewerkschaftsfreiheit gegen die Niederlassungsfreiheit abzuwägen ist und dass daher solche Arbeitskämpfe zulässig sein können.
Zugegeben: Es sind in Europa noch viel mehr Reformschritte nötig. Aber die EU entwickelt sich Schritt für Schritt. Und in Lissabon hat sie einen großen Schritt gemacht. Wir Sozialdemokraten begleiten Europa dabei seit jeher. Es muss aber für uns auch eine Herzensangelegenheit werden – das Thema sollten wir nicht den Bürgerlichen überlassen!
von Martin Steffens
Unser Autor Martin Steffens ist seit Sommer Mitglied im Ortsverein Rüppurr. Den Europäischen Verfassungskonvent hat er vor Ort in Brüssel miterlebt. An der Universität Mannheim forscht er über die Rechte von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in Europa.